Eine Plata d’Amour auf Claire Waldoff
Mit Sigrid Grajek unterwegs im Bayerischen Viertel
„Krawallschachtel”, „Revolverschnauze” oder „dolle Bolle” – Claire Waldoff mit der koddrigen Berliner Schnauze hatte viele Spitznamen. Wie kaum eine andere Frau prägte der kesse Rotschopf das Bühnenleben in den Goldenen Zwanzigern. Und obwohl sie als Berliner Urgestein gilt, hatte sie sich ihren Dialekt nur in Kneipen antrainiert. Tatsächlich kam sie aus dem Ruhrpott und wurde heute vor 137 Jahren geboren.
Treffpunkt Bayerischer Platz
Erst kürzlich hatte ich das Buch „Claire Waldoff: Ein Kerl wie Samt und Seide” von Sylvia Roth gelesen und freute mich riesig, als ich die Ankündigung einer Führung von Sigrid Grajek entdeckte. Ich ergatterte den letzten Platz und fand mich gespannt am 10.10. am Bayerischen Platz in Schöneberg ein. Ganz in Waldoff-Manier erschien die Kabarettistin in Anzug und Krawatte – Anfang des 20. Jahrhunderts ein riesen Aufreger! Was einige Jahre später Diven wie Marlene Dietrich wie selbstverständlich trugen, rief bei der Pionierin Waldoff noch die kaiserlichen Zensoren auf den Plan.
Der Rundgang startet im U-Bahnhof, wo es eine Ausstellung zu großen Persönlichkeiten gibt, die einst das Leben im Bayerischen Viertel prägten. Unter den zwei Frauen, die hier kurz porträtiert wurden, ist auch Claire Waldoff, die fast ihre gesamte Berliner Zeit hier verbrachte.
Über dem Bahnhof kann man sich im Café Haberland außerdem bei einem Kaffee an einer Audiostation von Claire das Lied „Fang‘ nie was mit Verwandtschaft an“ vorsingen lassen. Weitere Gesangseinlagen gibt es von Marlene Dietrich, David Bowie und den Comedian Harmonists oder auch Lebenserinnerungen von Billy Wilder.
Bude mit nüscht drin …
Weiter geht es in die Bamberger Straße. Dort lebte Claire schon kurz nach ihrer Ankunft in Berlin 1906. Sie bezog eine kleine Bude mit nüscht drin im Hinterhof-Parterre. Grajek nimmt ihre Zuhörerinnen mit ihren spannenden Geschichten und Anekdoten wirklich mit auf eine Zeitreise und ihre Begeisterung steckt einfach an. Ich sehe förmlich vor mir, wie die junge Frau mit ihrem Korbkoffer und ihrem Regenschirm vor weit über 100 Jahren hier ankam.
Wir passieren die Haberlandstraße 7, wo die Sängerin ihre letzte Wohnung in Berlin hatte. Sie lebte dort wie selbstverständlich mit ihrer Lebensgefährtin Olly von Roeder zusammen – was in den Goldenen Zwanzigern progressiv war, war unter den Nationalsozialisten gefährlich. Doch Claire war durch ihre Popularität zunächst geschützt. Zeitweise brachte sie zwei Platten pro Monat heraus. Ihre Ohrwürmer wie „Wer schmeißt denn da mit Lehm” oder „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ konnte damals jedes Kind mitsingen. Als die Wohnung 1943 zerstört wurde, befand sich das Paar bereits nicht mehr in der Hauptstadt – allerdings verbrannte fast ihr gesamter Besitz, auch die Bibliothek mit 4.000 Büchern. Was eher unbekannt ist: Waldoff war hoch gebildet. Als junges Mädchen ging sie aus eigenem Antrieb heraus nach Hannover und besuchte dort die Gymnasialkurse von Helene Lange.
Beletage am Victoria-Luise-Platz
Komplett ins Schwärmen gerät die Waldoff-Interpretin vor der Regensburger Str. 33 am schicken Victoria-Luise-Platz. In der dortigen Beletage mit eingelassener Badewanne lebten Olly und Claire von 1918 bis 1933. Wieder reißt mich Grajek mit und ich kann mir die fröhlichen Abende vorstellen, die hier einst bei selbsgemachter Plata d’Amour veranstaltet wurden. Einmal soll sie in einer bowlegeschwängerten Laune eine ganze Kiste mit neuen Dessous am Spieltisch verloren haben.
Ein junger Anwohner schließt die Tür auf – einen Blick ins Treppenhaus will er uns aber nicht gönnen. Doch da hat er seine Rechnung ohne Bernd gemacht, dem heutigen Bewohner der Beletage. Der öffnet kurz darauf das Fenster und freut sich, uns zu sehen. Er sorgt sogar für die richtige musikalische Untermalung und kommt angelockt von einem Becher Plata d’Amour sogar zu uns runter. Die Bowle hat Grajek nach altem Rezept extra für die Premiere ihrer Führung angemischt – ein willkommenes Sahnehäubchen auf die ohnehin gelungene Veranstaltung. Bernd lässt uns noch schnell ein paar Fotos im Flur schießen, bevor wir unsere Becherchen erheben und auf Claire anstoßen. „Gewöhnungsbedürftig“ meinten die meisten, ich fand es lecker und schaute neidisch hinterher, als Bernd die halbvolle Flasche für später mitnahm.
Hinein ins Nachtleben
Nach dem Shot passte es ganz gut, dass die Tour kurz darauf mitten hinein ins Nachtleben der Roaring Twenties führte. Olly und Claire waren in den queeren Hotspots ihrer Zeit eine feste Größe. Sie gingen in den einschlägigen Etablissements ein und aus: damals wie heute befanden sich viele davon rund um Nollendorfplatz, Motzstraße und Winterfeldtplatz. Wir passieren das ehemalige Neue Schauspielhaus, später als Metropol und Goya bekannt. Dort brillierte Claire in der Operette „Drei alte Schachteln”, aus dem auch der Kollo-Hit „Ach Jott, wat sind die Männer dumm” stammt – eines der wohl noch berühmtesten Lieder der Chanteuse.
Wir sind schon weit über drei Stunden unterwegs, aber ich bekomme nicht genug von den Geschichten über ihre wilden Nächte im „Eldorado” in der Motzstraße, wo sie auch mit Marlene Dietrich verkehrte. Im bekannten Damenclub „Pyramide” in der Schweriner Straße tummelten sich neben Claire Berühmtheiten wie die berüchtigte Tänzerin Anita Berber. Nach und nach entsteht in meinem Kopf ein Bild von der Szene, in der sich viele Stars und Künstlerinnen vor 100 Jahren vergnügten.
Sigrid Grajek singt Claire Waldoff
Etwas durchgefroren erreichen wir nach vier Stunden die Begine in der Potsdamer Straße. Hier bekommen wir noch ein kleines Konzert als i-Tüpfelchen. Grajek startet natürlich mit „Schmackeduzchen” – das Lied über einen liebestollen Erpel, das für Claire den Durchbruch bedeutete. Der berühmte Komponist Walter Kollo schlug mit dem Text über die Dreiecksbeziehung zwischen Erpel, Schwan und Schilfkolben – oder auch Bumskeule bzw. Schmackeduzchen – der Zensur im sittenstrengen Kaiserreich ein tolles Schnippchen. Das kam beim Publikum enorm gut an! Claire schmetterte den Song am ersten Abend gleich neunmal und begann so ihre große Karriere.
Am Ende bekommen wir sogar noch sämtliche Fragen beantwortet. Ob Claire auch lesbische Lieder aufgeführt hat? Ja, allerdings als sogenannte Schusterjungenlieder. In diesen schlüpfte sie einfach in die Rolle eines Mannes und konnte so auch unbehelligt Songs wie „Ach wie ich die Lena liebe“ oder „Nehme ick mir mal ne Frau“ singen. Zudem nutzte sie ihre Bekanntheit auch, um generelle Frauenthemen anzusprechen. „Wegen Emil seine unanständige Lust” kann als freche Kritik an Bodyshaming, Schönheitswahn und -operationen gedeutet werden. Nebenbei erfahren wir noch, dass um die Ecke am Bülowbogen der sogenannte „Nasenjoseph“ seine Praxis hatte – kein Geringerer als der Begründer der plastischen Chirurgie. Und wieder was gelernt!
Claire Waldoff in Berlin – Fazit
Die Führung war für mich ein echtes Highlight und ich würde jederzeit nochmal teilnehmen. Ich kann sie jedem, der sich für Claire Waldoff oder die 20er-Jahre interessiert, nur ans Herz legen. Grajek will den Namen der einzigartigen Künstlerin nicht in Vergessenheit geraten lassen und der Kiezrundgang trägt einen großen Teil dazu bei. Aber man erfährt auch noch so viel drumherum. Über das jüdische Leben im Bayerischen Viertel oder über andere Bewohner wie Albert Einstein, Walter Kollo oder Gertrude Sandmann. Warum ausschließlich Frauen dabei waren – keine Ahnung! Dazu kann ich nur sagen: „Ach Jott, wat sind die Männer dumm”!
Ihr interessiert euch für Stars des frühen 20. Jahrhunderts? Dann lest doch auch meine Artikel zu Asta Nielsen oder Fritzi Massary.