Berolinismus? Nieder mit der Pickelhaube!
Letzte Woche machte ich seit langem mal wieder eine Schifffahrt durch Berlin. Wie jedes Mal fiel mir auf, dass ich viele Begriffe bzw. Berliner Spitznamen ausschließlich aus dem Mund von Stadtführern kenne. Bestes Beispiel ist meiner Meinung nach der Glockenturm im Tiergarten. In der Sehenswürdigkeitenlandschaft der Hauptstadt absolut unbekannt und überflüssig. Dennoch findet er bei jeder Tour durch Mitte prominente Erwähnung. Da er von der Daimler-Benz AG gestiftet wurde, wird er von den Berlinern „Big Benz” oder „Notre Daimler” genannt – so sagen es jedenfalls die Guides. Klingt ja tatsächlich ganz ulkig, aber sagt eigentlich keiner. Hat sich das nicht vielleicht die Marketing-Abteilung von Daimler-Benz selbst ausgedacht? „Big Ben klingt doch irgendwie wie Big Benz – komm, wir bauen in Berlin einen Glockenturm, geile Idee!” – wer weiß?! Millionenfache Werbung und Erwähnung jährlich (auch hier wieder durch mich) – der Coup hätte sich ausgezahlt.
Berolinismus – Fakewortschatz für Touristen
Zu solchen Berliner Spitznamen gibt es bei Wikipedia übrigens einen eigenen Artikel: Berolinismus. Aber auch dort wird bereits erwähnt, dass viele dieser Begriffe dem Volksmund nur untergeschoben werden. Da kann ich gleich noch mehr Beispiele dieser Schifffahrt nennen: sagt irgendjemand wirklich „Waschmaschine” zum Bundeskanzleramt, „Schwangere Auster” zur Kongresshalle oder „Telespargel” zum Fernsehturm? Wenn überhaupt, dann nur scherzhaft, um sich über das Pseudoberlinerisch lustig zu machen und nicht, weil man sich über das Gebäude selbst lustig machen möchte. Oder?
Wie? Der Engel heißt nicht Goldelse?
Natürlich gilt das nicht für alle Begriffe. Tatsächlich gibt es ein paar Bezeichnungen, die sich im Sprachgebrauch der Hauptstädter so verfestigt haben, dass der tatsächliche Name gar nicht mehr gebräuchlich ist. Ich jedenfalls hätte vor kurzem gar nicht sagen können, wie die „Goldelse” oben auf der Siegessäule tatsächlich heißt – es ist Viktoria, die vergöttlichte Personifikation des Sieges.
Auch den „Tränenpalast” kenne ich nicht als „Abfertigungsgebäude des ehemaligen Grenzüberganges Friedrichstraße”. Das mag aber auch daran liegen, dass in riesigen Buchstaben „Tränenpalast” dransteht. Und weiß jemand, wie der „Bierpinsel“ wirklich heißt?
Als Berolinismus werden zudem Ortsnamen definiert. Die benutzen tatsächlich alle – Berliner, Zugezogene und Besucher. Aber mal ehrlich: „Alex” für Alexanderplatz, „Boxi” für Boxhagener Platz, „Kotti”, „Stutti”, „Ku’damm”, „Görli” und wie sie alle heißen … das sind meiner Meinung nach stinknormale Abkürzungen und kein linguistisches Phänomen. Anders verhält es sich vielleicht mit „Schweineöde” statt Schöneweide. Und das sagen sogar einige S-Bahnfahrer in ihrer Ansage.
Berliner Spitznamen – Sprache im Wandel
Einige der Begriffe – dahingestellt, ob echt oder erfunden – werden aufgrund ihrer Zeitbezogenheit vermutlich irgendwann wieder komplett verschwinden. Wird beispielsweise „Erichs Lampenladen” in Zukunft jungen Leuten irgendwas sagen? Und weiß heute noch jeder sofort wie eine preußische Pickelhaube aussieht? Das soll nämlich der Spitzname des Wasserturms am Ostkreuz sein.
Aus Erfahrung kann ich euch allerdings verraten, dass hier bereits ein sprachlicher Wandel stattgefunden hat. Der steht aber noch in keinem Lexikon! Die Friedrichshainer betiteln das gute Stück einfach als OSTKREUZPIMMEL. Neben dem Café Achteck – grüne, achteckige Toilettenhäuschen – mein liebster Berliner Spitzname.
Und hier der Vergleich, den ihr euch in der Exerzierhalle der Zitadelle Spandau ansehen könnt:
Kürzlich hab ich bei einer Führung gehört, dass der Friedrichstadt-Palast in Berlin den Spitznamen „aserbaidschanischer Bahnhof“ tragen soll. Nie gehört! Kennt ihr vielleicht irgendwelche Begriffe, die tatsächlich gebräuchlich sind?
Ein Begriff aus der Berliner Stadtgeschichte, den man unbedingt kennen sollte, ist übrigens: Kotze-Affäre.